Was versteht August Clüsserath unter Kunst?

„Bausteine“ aus Clüsseraths geistiger Architektur seien im folgenden geboten. Deren Zusammenhang geht zu Lasten des Referenten.
Was versteht August Clüsserath unter Kunst? „kunst ist leben, leidenschaft, gefühl, menschlichkeit, inbrunst, frömmigkeit" antwortet er 1955. „das kunstwerk ist das gefäß für ein starkes erlebnis eines tiefen charakters, und wer nur das äußerliche sieht, der wird nie sein wesentliches erkennen," „schlagworte der ,kunst’: spannung, dichte, komposition, farbe - mögen meine kollegen danach streben, ich strebe nach kunst, die nur aus höchster Iebendigkeit, aus wärme, aus innigstem zusammenleben mit der natur entstehen kann.” „jedes bild ist eine kühne tat: nicht wei| es kühn sein soll, sondern weil der künstler kühn und unvoreingenommen sein soll“, heißt es im Notizbuch 1950/60, und unter dem 27. April 1953 im Taschenkalender: „in der kunst kommt es auf ein möglichst kräftiges geschehen an: dass in einem bild starke schnitte und kräftige taten geschehen, die sich aber in aller harmonie abspielen. starkes, urtümliches wachstum."

Vor dem Atelier in Völklingen-Fenne,
 1959Aus dieser Grundauffassung erklären sich andere Notizen Clüsseraths, so etwa seine immer wiederholte Forderung, der Künstler müsse mit jedem Bilde wieder von vorn anfangen: „es gibt kein schema, nach dem gearbeitet werden kann, wenn bei einem maler bei der allerintensivsten beschäftigung mit der natur und der komposition ein schema herauskommt, so ist das der stil. man soll aber diesen stil niemals wieder anstreben jedes bild soll von vorne angefangen sein, als ob man noch niemals ein bild gemalt hätte." „wenn man ein bild malen will, muss man in der konzentration seines geistes alles vergessen, was von der eigentlichen kunst ablenken könnte: die tradition, die technik, die schönheit des bildes und des gegenstandes, was es evt. wert ist und was man damit verdienen will, ob es gefällt oder nicht, das handwerkliche - mit einem wort, man muss so arbeiten, als ob noch nie ein kunstwerk geschaffen worden wäre und als ob es das ursprünglichste, beste, für niemand berechnete kunstwerk werden sollte,“ „bei jedem kunstwerk muss man von vorne anfangen — umso reiner wird es und umso mehr kunstwerk. handwerk ist wiederholung, das kunstwerk aber ist ein einmaliges, man müsste alle erfahrungen vergessen." „ich weiß, dass ich in dem augenblick, wo ich den pinsel in die hand nehme, nicht malen zu können habe und nicht malen kann, und dass ich bei jedem bild neu lernen muss.” Und unter dem 6./7. Juni 1954 heißt es: „große kunst entsteht nur dann, wenn der schöpfer bereit ist, alles, was er gekonnt hat, an dem er sich halten kann, aufzugeben und neues zu erfahren und zugrunde zu legen. er muss jederzeit im ,dunkeln' zu tappen bereit sein." Möglich, ja notwendig ist dies, weil es für Kunst kein Gesetz, keine Maßstäbe, keine Regeln gibt: „jedes kunstwerk trägt sein gesetz in sich. es gibt keine maßstäbe, die von außen an das kunstwerk herangetragen werden könnten", notiert Clüsserath unter dem 24. September 1954. „es gibt kein gesetz in der kunst, das man nicht über den haufen werfen kann." „es ist unsinn, zu glauben, dass die kunst von irgend einer form, irgend einem stil, irgend einer kompositionsart abhängig sei, die kunst ist nur vom menschen abhängig, dass sie ein ganzer mensch ganz macht.” Umgekehrt wird festgestellt: „die unregelmäßigkeit macht das bi|d, die regelmäßigkeit die dekoration.” „je unregelmäßiger ein bild gestaltet ist, desto mehr komposition gestattet es. ich habe mein ganzes leben ‚schlecht’ gemalt, um gut malen zu können.“ ?(10. September 1954) 

Vor dem Atelier in Völklingen-Fenne 1959 Die letzte Formulierung gibt dem Gedanken eine Wendung, die in Bemerkungen über „Fehler“ in der Kunst, über die „Unmöglichkeit, ein vollkommenes Bild zu malen", weiter verfolgt und vertieft werden. „es ist nicht die aufgabe der kunst, ‚fehler', die die komposition mit sich bringt, zu verbergen, zu beschönigen oder zu beseitigen." „eine mutmaßung: ohne sogenannte ‚fehler’ ist jedes kunstwerk — vielleicht jede arbeit überhaupt — nicht vollkommen.” (20. Mai 1955) Ins Persönliche gewendet heißt es: „ob ich wohl wage, einmal etwas halbes sehen zu lassen, und fehler, o ja! nur nichts verbergen wollen an mir, wenn es nicht zu verbergen ist. ich armer, schwacher mensch!” „ich liebe den irrtum, die unsicherheit, die demut, die schwäche, sie führen mich zur wahrheit und machen mich groß.” (September 1950) „wichtiger als dass man kunst macht, ist, dass man immer auf dem wege zur kunst ist. denn auch die kunst kennt nichts vollendetes, und wer glaubt, er mache vollendete kunst, hat wenig ahnung von kunst.“ „natürlich glaubt der maler, dass er schlecht malt, da es unmöglich ist, ein vollkommenes bi|d zu malen", lautet eine Notiz vom September 1954, und eine Bemerkung unter dem Titel „vollkommenheit“: „nichts ist vollkommen, nichts kann vollkommen sein, alles lebendige ist im werden, auch die kunst. dem muss man als künstler rechnung tragen. es ist unsinn, als künstler auf vollkommene technik zu sehen: tiefe kunst widerspricht der technik.” „das gute kunstwerk bleibt stets unvollendet und ist stets vollendet.” „nur das unfertige bietet gewähr für dauer. das fertige ist ohne wachstum, kalt und unangenehm für den empfindsamen menschen, wenn ein bi|d die fähigkeit hat, fertig zu werden, ist es nicht viel wert." „ein wesentliches der kunst ist, dass man den mut hat, unvollendet zu sein: man muss seine fehler lieben und überwinden wollen.” „mut! die erlebte skizze ist vollendeter - im geistigen sinne - als das herrlich sauberste und vollendete bi|d.” (So im „Taschenkalender“ des 1. Vierteljahrs 1955).

August Clüsserath - Abstraktes Lesebuch. Texte: Hans Bernhard Schiff. Auswahl der Bilder: Walter Schmeer,
 Max Mertz,
 Jo Enzweiler,
 Hans Bernhard Schiff. Druck und Verlag: Alois Balzert,
 Püttlingen 1967Eine andere, schärfere Fassung erhält dieser Gedanke in folgenden Notizen: „ich bin davon ausgegangen, dass man bei jedem guten bi|d eine überraschung erlebt, schockiert, ja zuerst mit macht abgestoßen wird.” „gute kunst ist hässlich, wenn sie nicht hässlich ist, muss man sie hässlich machen. alles bedeutende vollzieht sich unter dem zeichen der mühe, hässlichkeit; das schöne ist kitsch.“ Ein längerer Abschnitt steht unter dem Titel „über die ärmlichkeit der kunst". Er beginnt mit dem Satz: „bei der unwahrhaftigkeit und heuchelei, der putzsucht und affigkeit, der wichtigkeit, die der maske des make-up beigelegt wird, kann die wirkliche reine kunst gar nicht ärmlich, bescheiden, ja schmutzig genug erscheinen." „das bedeutende hat gar nichts gefälliges." „’das werk ist umso besser, je widerspenstiger das schließlich unterworfene sich anfangs gebärdete. ist der stoff von vornherein unterworfen, so ist das werk kalt und reizlos.’ dies wort stammt von andré gide. ich habe es hundertmal erfahren, dass ein bild, das ich missmutig in die ecke geworfen und nur widerwillig aufgehoben habe, sich nach jahren als das beste entpuppte.” „der künstler spürte den segen der schwierigkeit in jedem werke. wo kein widerstand ist, wird auch keine arbeit geleistet. das ist ein bekanntes physikalisches gesetz; es gilt aber auch gerade so im geistigen und künstlerischen. das kunstwerk ist weiter nichts als eine greifbare, d. i. sichtbar, hörbar und fühlbar gemachte anhäufung ästhetischer, künstlerischer energien. der echte künstler wird also immer wieder den widerstand suchen, es ist notwendig, dass er bei jedem werk sozusagen von vorne anfängt.“ Eine Notiz vom 17. Februar 1955 lautet: „im grunde kommt jedes kunstwerk aus einer zerstörenden brutalität: warum soll man diese heuchelnd verbergen? weil viele aus angst vor dem publikum das tun, sind ihre werke so leblos, so wertlos, so kraftlos." Eine Bemerkung vom 27./28. Mai desselben Jahres kann als eine sanftere Fassung des gleichen Gedankens verstanden werden: „wie man in der homöopathie die krankheiten heilt durch die krankheiten selbst, so ist es in der malerei möglich, durch scheinbar gegenteilige mittel, die der harmonie entgegenwirken müssten, die vollkommene harmonie zu erreichen.“ - Um aber die zuvor angesprochene „brutalität“ richtig einschätzen zu können, ist die folgende Bemerkung über „komposition“ daneben zu halten: „ausgesprochen lCHsüchtige malen auch ichsüchtige bilder. es sind bilder, die mittelpunkt zu sein trachten, bilder sind eben wie menschen. bilder, die sich in den vordergrund schieben, die aus der wand herausspringen, die nichts neben sich gelten lassen. meine bilder sollen stark sein, ohne einem weh zu tun.“

Hieran lassen sich Clüsseraths Aufzeichnungen über die „Relativität der Kunst" anschließen. Unter diesem Stichwort schreibt der Künstler: „meine größte entdeckung ist die, dass die heute von kunstgelehrten und künstlern propagierte lehre, dass man bei einem guten kunstwerk nichts wegnehmen, nichts verschieben, nichts ändern kann, nicht stimmt. das ist bei einer bestimmten gattung des tafelbildes so, das in keiner beziehung zur umgebung steht; sobald es aber in beziehung zu einer umgebung tritt, muss es abgeändert werden, damit es in sich die ,kunst’ behält. (relativität der kunst - das bedeutet also, dass der künstler [der ernstzunehmende künstler] die bilder sozusagen nur für [in beziehung zu] sein[em] atelier malt)” In diesen Zusammenhang gehören auch folgende Reflexionen: „man kann nicht befriedigt ein bild irgendwohin hängen, es sei denn, dass es eigens für diesen zweck und für diesen platz entworfen ist. ein bi|d muss gewachsen sein, wie eine pflanze oder ein tier, und dieses wachsen ist in jeder umgebung und unter jeder bedingung anders." „bi|d. man sagt, dass ein rahmen schon deswegen gut sei, damit das bi|d um so mehr von der wand isoliert ist. ich male nicht, um das bi|d zu isolieren, sondern um es mit der wand zu verbinden.“„ meine bilder sind gemalte plastiken, sie werden durch den rahmen vernichtet." 

Bilder sind für Clüsserath also immer „unvollendet“, „fehlerhaft", „relativ“. Die künstlerische Arbeit selbst aber wird von ihm hochgeschätzt. „es ist völlig unmöglich, ein bild nur aus der vorstellung heraus zu schaffen, ohne es während der arbeit ständig zu ändern - so sehr versagt die menschliche vorstellungskraft. ein gutes bi|d entsteht also sozusagen nur während der arbeit, und je kümmerlicher die reste sind, die aus der vorschaffensperiode übrigbleiben, um so besser müsste es werden.” (19./20. Juni 1955) „nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst muss man immer für unfähig halten, ein urteil zu fällen, so kommt man dem ziel immer näher. der maler hat nur sich hinzugeben (aber vollkommen!) seiner arbeit. das urteil darüber überlasse er der nachwelt.” (September 1954) „man muss traurig sein, wenn man schnell gute arbeiten bekommt, denn so entgeht einem die möglichkeit, sie noch besser zu machen - durch längere intensive arbeit,” (6. März 1955) „arbeit des künstlers. man ist immer gezwungen, das äußerste dessen zu tun, wessen man fähig ist. wenn man dies nicht tut, wird es unehrlich, unkünstlerisch und vollkommen wertlos. das heißt, immer sich selbst übertreffen, also nicht nur immer unerwartet und schockierend anders, als man es erwartet, sondern auch immer anders und fremdartig dem, was man von sich selbst erwartet. ‚es wird’, aber es wird nicht gemacht.“

Wie verhält sich Clüsserath zum künstlerischen „Material“? AIs Ausgangsposition kann seine Notiz über „malerei. bild" dienen: „die ganze malerei ist geistige einstellung: ein bild wird das, was ein bild werden soll, sofern man im kopf eine richtige vorstellung des dinges, das sich bild nennt, hat. ein bild ist konzentrierte arbeit, ein daraufhinarbeiten auf das ding, das bild. ein bild ist nicht ein äußeres, sondern ein inneres, es hat keine äußerlichen kennzeichen, sondern innere, durch die seele erreichbare.” Daraus folgt des Künstlers Einschätzung des „Materials“: „wer gute kunst abhängig macht vom material, zeigt meistens dadurch, dass er nichts von kunst versteht oder dass er nicht zur kultur, sondern zum tier im menschen steht. - das material ist nur ein ausdrucksmittel, materialisationsmittel für die kunst. auch die form gehört in gewissem grade zum material. ein großer geist kann zuweilen die banalste form erfüllen und der kunst dienstbar machen. im material verkörpert, zeigt sich der geist. aus material macht man keine kunst, man benutzt es nur, um geist zu zeigen. kunst ist verkörperter, materialisierter geist“ „es ist nicht so wichtig, dass man das tote - das material und die maschine - beherrscht; die kunst als das lebendige steht immer im gegensatz zur materie, die durch sie zum leben erweckt wird. aber an der überschätzung der materie geht die menschheit zugrunde.“ „alles material ist zum bilde verwendbar: denn das bildwerk ist geist und nicht material! auch das billigste material formt sich zum bilde! wenn der geist es will! ”

Eine Notiz vom 17. Juli 1953 akzentuiert die Widerspenstigkeit des Materials: „die ganze materie sträubt sich dagegen, zu einem kunstwerk zu dienen: pinsel, feder, farbe, alles versagt und ist widerspenstig und je größer das kunstwerk, dem es dienen und sich formen soll, umso mehr.“

Hier zeichnet sich schon der hochgespannte, strenge, moralische Idealismus ab, der in einer Reihe von Aufzeichnungen ausdrücklich zur Sprache gebracht wird:„je weiter man kommt, desto mehr wirft man alle konventionellen regeln über bord und entdeckt die reine kunst, die reine menschlichkeit, die reine große! - zuerst muss man sorgen, dass man moralisch (im sinne des evangeliums, nicht der kirche!) in ordnung ist, dann muss man malen, und man wird ein genialer künstler", lautet eine Notiz vom 23./24. September 1954. „können ohne tiefe moralische gesinnung ist eine äußerlichkeit, man sagt dazu Virtuosität”, heißt es an anderer Stelle, oder, am 30.April 1955: „nicht die arbeit der hand oder des kopfes macht zu guter letzt die kunst, sondern die moral: sie allein bestimmt, ob ein kunstwerk ewig ist oder in einigen jahren vergänglich.“ „zur kunst erziehen heißt zur moral erziehen. ein mensch ohne mut, ohne wahrhaftigkeit bis zum äußersten, ohne äußerste freiheit, ohne leidenschaftlichstes erleben, ohne gerechtigkeit u.s.w. hat keine beziehung zur kunst.“ (12./13. Juli 1954) „Sie wundern sich, dass ich immer wieder in diese Sprache verfalle, aber hören Sie: das bildwerk erwächst nur aus einem vollen, bewussten, charaktergroßen, ehrlichen, menschlich möglichst vollkommenen leben. so sehr, dass es die erste pflicht der künstlerausbildenden schulen wäre, die große menschlichkeit auszubilden. und alles andere ergibt sich dann.“

Einen Schritt weiter gehen Clüsseraths Bemerkungen über „Kunst und Religion” und des „Künstlers Kontakt mit Gott”: „kunst ist mehr als dekoration. kunst ist religion” steht im Notizbuch 1950/60, „kunst ist religiös aus sich, weil sie wie die kreatur gott preist“ in einer Notiz vom 17. Juli 1962, „kunst ist eine der höchsten formen der gottesverehrung“ und: „der sinn der kunst ist nicht entspannung, sondern erhebung.” Eine Eintragung unter dem 25. Juli 1954 lautet: „ich habe nie nach außen gesehen bei meiner arbeit, ich habe immer zur ehre gottes gearbeitet. das muss jeder wesentliche mensch." In einem Briefentwurf steht sogar: „ich handle ganz als werkzeug gottes und bin ganz in seiner macht, und er bedient sich meiner hand und meines geistes, diese bilder entstehen zu lassen. ich habe hundertmal erfahren, dass schwächen nur dann in meinem werke sind, wenn ich zu eigenmächtig bin, mich gott nicht ganz hingebe, und versuche, danach zu handeln.“

Ins Allgemeine gewandt heißt es im „Taschenkalender” des zweiten Vierteljahrs 1955: „gottes ordnung ist nicht der menschen ordnung, der menschen ordnung ist nicht gottes ordnung, aber des echten künstlers ordnung ist gottes ordnung. der menschen ordnung führt zum untergang.  gottes und des künstlers ordnung führen zum aufbau. - so soll der künstler sein! “ Und im „Taschenkalender“ des vierten Vierteljahrs 1955 ist zu lesen: „die besten künstler gelten deswegen für die unzuverlässigsten, weil sie am besten wissen, wie man mit gott, dem schöpfer rechnen und umgehen muss.”

Irritierend ist allerdings, in einigen Notizen Clüsseraths Gleichsetzung von Gott und Zufall zu erfahren: „je mehr ich dem zufall (gott) an beabsichtigtem abringen kann, desto größer bin ich als schöpfer und desto näher gott.“ (Notizbuch 1950/60) Und: „das zufällige als das einmalige, das nie wieder zu erlebende. ein bild ist um so besser, je mehr ‚zufälligkeiten’ - ins bewusstsein gelangtes erleben - es enthält. (mit dem bewusstsein fängt erst die kunst an!) - man muss sozusagen einen kontrakt mit gott haben, damit er viele erlebte zufälligkeiten zufüge, damit das werk leicht dahinfließe." Zur Erläuterung des Gottesbegriffs des Künstlers dient auch folgende Bemerkung: „wenn einer fromm ist, und zur kunst muss er fromm sein, so möge er, bevor er anfängt, sich mit kunst zu befassen, besonders mit moderner, sich sammeln und beten. ich meine nicht beten im herkömmlichen sinne, denn ich bin ein heide, sondern inbrünstig und mit ganzer hingabe, wie einer betet, der nach der meinung der sogenannten christen gott verloren hat.”

Bei aller Näherung von Kunst und Religion, Künstler und Gott, steht für Clüsserath Kunst, und gerade abstrakte Kunst, in engem Bezug auch zur Natur. „unterschied zwischen kunst und natur: erstere ist, da menschenwerk und teilwerk, immer unvollkommen, letztere, da ganzwerk, in beziehung zu allem und jedem, immer vollkommen. und doch ist die kunst - nicht das abbild, sondern die kunst! - die getreueste nachahmung des ganzwerks natur.“ Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen umkreisen Clüsseraths Notizen das Verhältnis von Kunst und Natur: „was ist naiver und primitiver in der kunst, als der natur möglichst nahe kommen zu wollen? des menschen würdig und seine aufgabe ist, sich im innigsten kontakt mit der natur, von gott fühlend, eine neue natur zu erschaffen, die um so göttlicher ist, je weiter sie sich von der existierenden natur entfernt.“ „die bewegung in der wesentlichen kunst heißt sowohl los von der natur als zurück zur natur. los von der natur, als es sich um eine bildgestaltung handelt und nicht um einen abklatsch der natur zurück zur natur, als der maler nur aus dem tiefsten erlebnis der natur heraus, aus dem innigen gefühl, [aus dem] er natur ist, das ja ein stück natur ist, formen kann.” „auch für die abstrakte malerei ist die natur mit ihrer Iebendigkeit und ursprünglichkeit ursprung und vorbild. auch die maler abstrakter bilder müssen vital mit der natur verbunden sein.“ „die abstrakte kunst greift in die tiefe und an dinge, die man nicht sofort erfasst. aber es ist auch natur!“

Den Kern, das Zentrum des von Clüsserath entfalteten Gedankengefüges aber bildet die Korrelation von Kunst und Freiheit. „freiheit und kunst: die kunst entwickelt sich nur unter den zeichen der größten freiheit (jawohl, es gibt große freiheit, aber vollkommene freiheit gibt es nicht!), der größtmöglichen loslösung von allen menschlich-gesellschaftlichen bindungen. dazu gehören mut, inbrunst, überzeugung, wissen - die größte weisheit." „kunst: erringung der freiheit, schaffung des unvermuteten, des unvorhergesehenen." (wohl 1964/65) „kunst ist freiheit!" „jedes kunstwerk ist ein emblem der freiheit.“ (25. Juni 1955)

In der Freiheit treffen sich Kunst und Moral. „der künstler ist frei heißt: er richtet sich nur nach den bedürfnissen der menschlichkeit. unter menschlichkeit ist hier die aufwärtsentwicklung der gesamtmenschheit, die menschwerdung verstanden. dies ist die größte moral, die sich ein mensch geben kann." „freiheit: frei sein heißt, von keiner norm, keiner partei, keiner religionsgemeinschaft abhängig sein. frei sein heißt aber auch von jeder hasserfüllten stellungnahme gegen irgend eine solche norm abstand nehmen. durch ein solches auftreten würde man sich binden. — der freie mensch fühlt sich durch das leben in irgend einer gemeinschaft nicht gebunden.” „über die freiheit: nichts bedeutendes entsteht ohne freiheit. nichts großes vollbringt der mensch, ohne dass er sich über bestehende regeln und gesetze und gewohnheiten hinwegsetzt. wenn man sich vergegenwärtigt, unter welchen umständen das christentum geboren wurde, so kann man nicht anders als erkennen, dass auch christus sich über die verknöcherten alten, nicht mehr geistig wirksamen ordnungen hinweggesetzt hat, als er dem abendland das christentum gab. freiheit ist die summe a||en schöpfertums und aller göttlichkeit, wie sie dem menschen möglich ist. und auch die kultur und kunst können ohne freiheit nicht entstehen. das ganze leben des künstlers besteht im kampf gegen die unfreiheit. der unfreiheit, die ihn, den träger, von seinem inneren ständig bedrängt und der unfreiheit, die man ihm von außen ständig aufzwingt.”

Ist Freiheit aber je „gegeben“, ist sie nicht immer „aufgegeben“? So trifft auf sie zu, was auch für Kunst gilt. „kunst ist etwas zu suchendes, nicht bekanntes, und man kann nicht bei ihrer kritik von bekanntem oder bestimmtem oder vorgeschriebenem ausgehen, kunst entsteht erst, sozusagen, mit ihren gesetzen, unter der hand des künstlers im glutofen seiner wirkenden seele und seiner pulsierenden gefühle.“ „der unvollkommene mensch kommt nie zu endgültiger einsicht - auch nicht zu dem wissen, was kunst und malerei ist: wenn er lebendig bleibt, wird er sich wundern, welche erfahrungen er noch macht.“ (1962) „je leichter die kunst, um so weniger kunst. es ist das wesen der kunst, dass sie eigentlich unerreichbar ist.” (wohl 1964/65)

Freiheit ist, wie Kunst, aber auch etwas jenseits aller Forderungen, aller Anstrengung, alles Willensmäßigen, etwas, das sich der Gelassenheit, der Ruhe, der Hingabe an die Natur zeigt. Davon spricht ein Haupttext Clüsseraths, eine „chinesische Erzählung”: „khing, der meister der holzarbeiter, schnitzte einen glockenspielständer. als er vollendet war, schien das werk a||en, die es sahen, als sei es von geistern geschaffen. der fürst von lu fragte den meister: ‚welches ist das geheimnis deiner kunst?’ ,dein untertan ist nur ein handwerker', antwortete khing, was für ein geheimnis könnte er besitzen? und doch ist da etwas. als ich daran ging, den  glockenspielständer zu machen, hütete ich mich vor jeder minderung meiner lebenskraft. ich sammelte mich, um meinen geist zur unbedingten ruhe zu bringen. nach drei tagen hatte ich allen Iohn, den ich erwarten könnte, vergessen. nach fünf tagen hatte ich allen ruhm, den ich erwerben könnte, vergessen. nach sieben tagen hatte ich meine glieder und meine gestalt vergessen. auch der gedanke an den hof, für den ich arbeiten sollte, war geschwunden. da sammelte ich meine kunst, von keinem außen mehr gestört. nun ging ich in den hochwald. ich sah die formen der bäume an. als ich einen erblickte, der die rechte form hatte, erschien mir der glockenspielständer, und ich ging ans werk. hätte ich diesen baum nicht gefunden, ich hätte das werk lassen müssen.'"

Clüsseraths Texte lassen sich nicht unmittelbar auf seine Werke „anwenden“. Aber sie sagen etwas aus über Clüsseraths geistige Haltung „im bild drücken sich alle die eigenschaften aus, die den künstler, den schöpfer des bildes ausmachen. das bild ist die inkarnation, die sichtbarwerdung dieser eigenschaften, eines zur vollkommenheit strebenden menschen."

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